Sonntag, 9. Juni 2019
(11) Neues aus Iran



Sari

Das Land wächst uns langsam ans Herz. In Anbetracht der Einladungen, die wir von Zufallsbekanntschaften auf der Straße erhalten, nehmen wir uns vor, zu testen, ob diese auch ernst gemeint sind. Es ist unglaublich! Eine Gruppe junger Leute um die 35, zwei Geschwister nebst Familie, spricht uns in Isfahan nach der Besichtigung des Chehek-Sotun-Palastes an. Nach den üblichen Fragen, entwickelt sich ein längeres Gespräch, in dem sich viele Gemeinsamkeiten zeigen. Die eine Frau ist Anwältin, die andere Lehrerin. Als wir ihnen erzählen, dass wir beabsichtigen, mit der Bahn in den Norden nach Sari ans Kaspische Meer zu fahren, kam prompt eine Einladung - wir müssten sie dann unbedingt besuchen. Wir versprechen, dass wir sie gerne besuchen würden, wenn wir irgendwann in Sari seien. Zwei Wochen später sind die Nowruz (Neujahrs)-Ferien. Ein geplanter Termin entfällt und wir entscheiden uns kurzfristig, die Reise nach Sari zu unternehmen. Wegen der kurzfristigen Entscheidung und Nowruz bekommen wir keinen Platz mehr im Abteil; es ist alles ausgebucht. Wenigstens bekommen wir noch Plätze im Großraumwagen. Für die Rückfahrt am nächsten Tag buchen wir einen VIP-Bus. Der Bus braucht auf der gut ausgebauten Fernstraße durch das Elbursgebirge normalerweise vier Stunden nach Sari, die Bahn sieben Stunden. Das Zugticket gibt es für 150.000 Rial, das sind etwa 1 Euro, ein Spottpreis für die 300 Kilometer lange Bahnstrecke. Für die Bahn entscheiden wir uns, weil die Strecke wunderschön sein soll. Sie gilt wegen der Vielfalt der Landschaften mit Abstand als eine der schönsten Bahnstrecken.
Die Strecke von Teheran ans Kaspische Meer war eine der ersten im Iran und Teil der transiranischen Eisenbahn, die – wie jedes Kind in Iran weiß - Reza Schah in den 1930er-Jahren mit Hilfe von deutschen Ingenieuren erbauen ließ. Ingenieure und Baumeister residierten in Teheran gleich hinter dem Bahnhof in einem Viertel, das alsbald Nazi-Abad genannt wurde, was frei übersetzt Nazi-Stadt heißt, und noch heute so heißt.
Nachdem alles gebucht ist, nehmen wir Kontakt auf zu unseren Freunden, wie wir sie jetzt schon nennen können. Postwendend kommt die Antwort, dass sie uns erwarten; wir sind ihre Gäste. Sie werden uns am Bahnhof abholen. Auf die Bitte um Empfehlung eines Hotels bestehen sie darauf, dass wir bei ihnen übernachten, wie lang wir denn bleiben. Nur einen Tag. Das gibt es doch nicht. Wir haben aber schon die Rückfahrt gebucht.





Morgens um sieben fahren wir zum Bahnhof. Die Stadt schläft noch.
Durch einen Lichtertunnel, der anlässlich von Nowruz installiert ist, gelangen wir ins Innere des Bahnhofs, durchlaufen die Gepäckkontrolle und gehen zur Ausländerpolizei zur Kontrolle unseres Visums. Die Polizei sitzt gemütlich beieinander und trinkt Kaffee. Freundlich werden wir begrüßt. Es ist alles in Ordnung. Wir setzen uns vor die elektronischen Anzeigetafeln. Reinigungskräfte schwirren um uns herum.





Die in Rot auf einem Monitor leuchtende Zeit zeigt an:
'8.24 Uhr am 4. Farvardin des Jahres 1398' (24.März 2019)
Eine viertel Stunde vor Abfahrt erscheint auf der Anzeige 'Boarding' auf Farsi und auf Englisch. Wir durchschreiten die Ticketkontrolle,





gehen zum Bahnsteig





und nehmen unsere Plätze ein. Nie herrscht ein Gedränge - weder in der Halle, noch auf dem Bahnsteig, auf den man erst kommt, wenn der Zug eingefahren und zum Stehen gebracht worden ist. Dann erst wird der Zugang geöffnet.








Der Zug nimmt einen Kurs südöstlich um Teheran auf. Die dichte Bebauung lichtet sich.





In der Ebene rechts und links wird Landwirtschaft betrieben. Unter Folien und Tunneln werden unter anderem Blumen und Erdbeeren angebaut.








Wenig später geht es durch die Wüste Kavir. Beige Einöde, Sand, kaum Vegetation, Überlandstraßen, wenige Siedlungen; Schafhirten mit ihren Herden, lockeres Buschwerk aus genügsamen Tamarisken, die angepflanzt wurden, um die Ausbreitung der Wüsten einzudämmen.





Der erste Halt.





Langsam verändert sich die Landschaft. Wir kommen in die Ausläufer des Elbursgebirges, das in den Tälern noch Landwirtschaft zulässt.





Der Zug schlängelt sich mitten durchs Gebirge, entlang eines Flusses, der natürlich mäandriert, an manchen Stellen aber in ein großes Betonflussbett gezwängt wird.





Mal sind die Bergflanken zackig erodiert, mal sanft abgerundet. Die Gesteinsaufschlüsse zeigen die verschiedensten Töne in Rot und Grün.







Wir gewinnen an Höhe.





Unmittelbar an der Bahnlinie sind kleine Dörfer mit leuchtend orangen, roten oder gelben Dächern. In den Gärten blühen die ersten Bäume.





Wir bieten unserem Gegenüber Walnüsse an. Nach zweimaliger Wiederholung greift er zu. Am Bahnhof in Firouz Kouh wird eine längere Pause angekündigt. Die Reisenden erhalten Gelegenheit, in die Gebetsräume zu gehen. Wir sehen allerdings keinen, der davon Gebrauch macht.





Firouz Kouh auf fast zweitausend Metern Höhe ist mit 40.000 Einwohnern die größte Stadt auf der Strecke nach Sari. Und es ist der längste Halt, fast eine halbe Stunde.



Der Gebetsraum. "Praying room"





Die schneebedeckten Berge künden den bevorstehenden Anstieg an. Hier wird die Lok gewechselt.











Nach dem Halt kommt der Herr von gegenüber mit einer Tüte Trockenfrüchte zurück, die er uns im Gegenzug anbietet. Wir kommen auf 2000 m.








Es wird leise im Zug. Die Reisenden erfasst die Müdigkeit.








Ein kurzer Halt am Bahnhof von Veresk.





Dann kommt auch schon die berühmte Eisenbahnbrücke von Veresk. Sie liegt in einem Abschnitt, in dem der Zug über Kehren und Tunnel in kurzer Zeit zweitausend Höhenmeter hinab zum Kaspischen Meer überwindet. Die steinerne Bogenbrücke spannt sich hier über eine 110 Meter tiefe Schlucht. Es gibt die Anekdote, dass Reza Schah, als er sie 1936 einweihte, den österreichischen Architekten mitsamt seiner Familie unter der Veresk-Brücke platzieren ließ, bevor der erste Zug darüber fuhr. Eine Vertrauen schaffende Maßnahme für die Zuverlässigkeit des Bauwerkes, die Brücke und Architekt schadlos überstanden haben.





Spektakulär geht die Fahrt weiter. Der höchste Punkt der Reise liegt auf dem Pass Guduk auf 2018 Metern über Meer.





Der Zug braust über hohe Viaduktbrücken





und durch Tunnel auf der Nordseite des Gebirges hinunter.





Der Wagen schaukelt hin und her. Der Blick ist frei auf den weit unten liegenden Talboden. Mindestens vier Kehrschleifen erblickt man, die der Zug nehmen muss, um die Höhendifferenz zu überwinden. Es herrscht Alpenambiente, bewaldete Hänge, sattgrüne Wiesen, Reisfelder, Kühe, hier und dort ein Weiler.



Eine Farm



Reisterrassen











Auf dem Bahnsteig werden wir schon erwartet, und in der festlich geschmückten Bahnhofshalle wird das Empfangsfoto fällig. Dann fahren wir zur Großfamilie. Dort empfangen uns etwa zwanzig Personen. Vater, Mutter, Onkel, Cousin nebst Anhang, jeder einzelne wird uns vorgestellt. Nach der herzlichen Begrüßung, Tee und Nüssen, Gebäck und Obst begeben wir uns ins Wohnzimmer. Wir bekommen Ehrenplätze neben dem Haushaltsvorstand zugewiesen. Dann prasseln auf uns von allen Seiten Fragen ein, über uns, unser Land und was die Deutschen über den Iran denken. Wir sprechen offen über die Ängste der Deutschen über den Islam und die Ursachen und die vielen Verbote und Gebote, die das private Leben im Iran betreffen und nicht zuletzt aus unserer Sicht, das Kernproblem, die in der Verfassung festgeschriebene Einheit von Kirche und Staat, die Theokratie.
Die Frauen tragen auch im Haus ihr Kopftuch, weil femde Männer anwesend sind (auch Cousins zählen dazu). Wir ausländische Frauen müssen uns nicht daran halten - Gott sei Dank! Als das Thema 'Gleichberechtigung' angesprochen wird, nehmen ein paar Frauen spontan ihr Kopftuch ab und schwingen es applaudierend in der Luft. Viele Fragen können nicht ausdiskutiert werden. Der 'Tisch' auf dem Boden ist gerichtet, geschätzt vier Meter lang. Fisch, Huhn, Rind zur Auswahl nebst allen üblichen Zutaten wie Salat, Kräuter, Joghurt und natürlich Reis. Uns wird ein Platz am 'richtigen' Esstisch angeboten; am Boden sei es für uns doch zu unbequem (völlig richtig); wir seien dies doch nicht gewöhnt. Wir wollen aber keine Sonderstellung und versuchen uns am Schneidersitz.





Wir sitzen wieder neben dem Oberhaupt der Familie, das um unser Wohlergehen bemüht ist und uns reichlich versorgt. Bald wird der Schneidersitz jedoch zu unbequem und wir bekommen einen Krampf in der Hüfte. Gleich wird uns ein kleines Tischchen zur Seite gestellt.








Der Vater war Anhänger der grünen Revolution und ist von der Entwicklung tief enttäuscht. Die Versprechungen der Revolution seien nicht eingehalten worden.





Nach dem Essen diskutieren die Brüder, wo denn übernachtet werden soll. Nachdem sie sich vergewissert haben, dass es uns nichts ausmacht, wenn es kein warmes Wasser gibt, fahren wir hinaus zum Landhaus. Vorbei an grünen, bewaldeten Berghängen. Uns überkommen heimatliche Gefühle. Es ist neblig und regnerisch. Zwei Tage vorher war hier ein schweres Unwetter niedergegangen. Umgestürzte Bäume und abgerutschte Berghänge hatten die Straße unpassierbar gemacht. Die Schäden sind noch zu sehen. Die Straße ist aber wieder befahrbar. Die Stimmung im Auto ist gut. Eine CD wird eingelegt und im Sitzen getanzt. Das Auto schwingt im Rhythmus.








Am Stausee wird Halt gemacht. Er ist in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts ebenfalls von Deutschen erbaut worden.














Nach etwa einer Stunde sind wir am Ziel; es ist schon dunkel und lausig kalt.





Der Holzofen wird angeworfen, das vorbereitete Abendessen fertig zubereitet und das Kebab auf den Grill gelegt.








Es wird gemütlich warm.








Nach dem Essen kommt die Großmutter zu Besuch.





Sie ist Witwe und lebt allein im Nachbarhaus. Wir haben den Eindruck, dass keiner so recht weiß, wie alt sie ist. Die Angaben gehen von sechzig bis neunzig. Wir schätzen sie auf achtzig. Sie ist rüstig und geistig auf der Höhe. Sie rügt ihre Enkeltochter, weil sie kein Kopftuch auf hat, obwohl ein fremder (deutscher) Mann, zugegen ist. Nachdem zuerst die Großmutter an jedes Kind und Enkelkind und deren Ehepartnern ein geringes Eidi (Geldgeschenk zu Nowruz) verteilt hat, werden wir in das Haus der Großmutter gebeten. Eine kleine ebenerdige Hütte, die sie selbst mit ihrem Mann nach alt hergebrachter Weise erbaut hat. Das zentrale Zimmer hat etwa 15 m² und wird von einem Holzofen beheizt. Das Dach besteht aus besonders haltbaren Holzbalken, der Wandverputz aus dem üblichen Gemisch aus Dung und Lehm.





Nun überreicht der Enkelsohn der Großmutter von jedem einzelnen Familienmitglied das Eidi, das ein Vielfaches von dem beträgt, was die Großmutter zuvor verteilt hat.





Die Übergabe eines jeden Geldscheins wird von Beifallsbekundungen der Anwesenden begleitet.





Dann greift die Enkeltochter zu Kochlöffel und Topf und die Party beginnt, Tanz der Männer nach iranischer Art. Wir werden aufgefordert, mitzumachen.








Anschließend zieht die Karawane weiter. Im Nachbarhaus, einem neuen, zweigeschossigen Holzhaus, wohnt ein Onkel. Das Licht brennt noch. Unangekündigt warten wir, bis uns geöffnet wird, wobei in diesem Zusammenhang an uns die Frage gestellt wird, ob man bei uns in Deutschland einen Besuch um diese Uhrzeit ohne Anmeldung abstatten kann. Wohl eher nicht. Wir werden ins Obergeschoss gebeten und schon hat sich ein Kreis von etwa zwanzig bis dreißig Personen jeden Alters gebildet. Wir werden willkommen geheißen. Während alle Anwesenden auf dem Boden sitzen, holt man für uns zwei Stühle, keine Widerrede. Auch hier wieder Fragen über Fragen über unser Land, warum die Europäer den iranischen Islam mit dem Terrorismus in Verbindung bringen. Als die Diskussionen zu heiß werden, unterbinden die Frauen das Gespräch mit Fragen nach dem Wetter. Zum Abschluss geht auch hier die Party ab.









Am nächsten Morgen werden wir zum Busbahnhof gebracht. Dann kommt der Abschied.




Wir müssen versprechen wiederzukommen und länger zu bleiben als einen Tag. Wir haben es versprochen. Auch bei uns sind noch viele Fragen offen, über die wir mit den Freunden gerne sprechen würden.





Dort erfahren wir, dass der Bus später abfährt und so bietet man uns einen Platz im Büro an und serviert uns Tee.





Die Rückfahrt ist vom Regen begleitet und von Staus.








Die Straßenwacht ist mit schwerem Gerät damit beschäftigt, die Straßen passierbar zu machen.







Es geht hoch auf 2.200 Meter - es schneit!





Und so sieht es bei unserer Ankunft in Teheran aus.





Während es am nächsten Tag in unserem Viertel so aussieht,











hören wir von den schweren Überschwemmungen im Süden des Landes, wo auch wertvolles Weltkulturerbe zerstört worden ist.